Kapitel 13
3.3 Gottesbilder - personaler und apersonaler Gott
In den verschiedenen Religionen existieren auch unterschiedliche Gottesbilder, die sich auch häufig in den Gottesvorstellungen der Mystikerinnen und Mystiker des betreffenden Kulturkreises wiederfinden. Allerdings setzen sich manche Mystikerinnen und Mystiker über diese vorherrschenden Bilder hinweg – wodurch sie oft ausgegrenzt wurden: Im besten Falle wurden ihre Schriften verboten, in vielen Fällen wurde sie, wie beispielsweise im abendländischen Mittelalter, der Ketzerei bezichtigt und verfolgt, wenn nicht sogar hingerichtet.
Während in den abrahamitischen Religionen, also dem Christentum, dem Islam und dem Judentum, eine monotheistische und zumeist personale Gottesvorstellung vorherrscht, finden sich in den östlichen Religionen, also beispielsweise im Daoismus, im Hinduismus und im Buddhismus eher apersonale, pantheistische Vorstellungen von Gott bzw. dem Urgrund des Seins (wobei auch in diesen Religionen, vor allem als Volksreligionen, ihr Gott bzw. - wie im hinduistischen Polytheismus - ihre Götter oft personale Züge annehmen).
Der Weg und das Ziel der Mystik ist es (sofern man in der Mystik überhaupt von einem „Weg“ und einem „Ziel“ sprechen kann), Kontakt mit dem Göttlichen aufzunehmen, sich ihm anzunähern, ihm zu begegnen und sich mit ihm zu vereinigen. Und dabei spielen die unterschiedlichen Gottesbilder naturgemäß eine große Rolle.
Jedoch wird im Allgemeinen vor der mystischen Vereinigung, der unio mystica, Gott, die Gottheit, das Dao, das Selbst, das Sein oder wie auch immer das göttliche Prinzip bezeichnet werden mag, immer noch als eine von mir getrennte Wesenheit gedacht - sei sie nun personal oder apersonal, als innerhalb oder außerhalb von mir existierend vorgestellt. Es handelt sich also um eine dualistische Welt- und Gottesauffassung: Ich, meine Seele, mein Bewusstsein ist das Subjekt, das Gott als Objekt ansieht und versucht, ihm nahe zu kommen.
Unterschiede bestehen jedoch in der Auffassung, inwieweit im Zustand der mystischen Vereinigung diese Dualität bestehen bleibt: Ob das Ich, die persönliche Identität des Schauenden auch dort noch fortbesteht, oder ob sie in der Verschmelzung mit dem Göttlichen ausgelöscht wird.
Zu dem Unterschied insbesondere der westlichen und der östlichen Mystik sei noch einmal der schon oben (in Kapitel 10.7) erwähnte Jesuit und Zen-Meister Hugo Enomiya-Lassalle zitiert. Er vergleicht die Erleuchtung im Buddhismus und im Christentum und schreibt dazu:
„Der Buddhist erfährt in der Erleuchtung zwar das tiefste Selbst, aber als eins mit dem absoluten Sein. Er wird dadurch in seinem Glauben an die vollkommene Einheit allen Seins bestärkt.
Der Christ - oder wer an einen persönlichen Gott glaubt - erfährt das Selbst nicht nur in sich, sondern auch in seiner Beziehung zum absoluten Sein. Er erfährt Gott in seinem Selbst. Die christliche Gotteserfahrung geht über das Selbst. Daher wird das Selbst nicht in das Absolute »eingeschmolzen«. Im Gegenteil: Die Gotteserfahrung ist für den Christen die Vollendung seiner Persönlichkeit.“ (Enomiya-Lassalle und Wehr 1991, S. 125)
(Es ist hierbei allerdings zu beachten, dass Enomiya-Lassalle mit dem Begriff „Selbst“ hier offenbar das persönliche Ich bezeichnet, nicht das tiefere innere Selbst, das dieser Begriff im Hinduismus z.B. bei Shankara bezeichnet.)
In der östlichen Mystik wird überwiegend die Ansicht vertreten, dass in der mystischen Vereinigung die individuelle Seele mit dem Göttlichen verschmilzt; der Unterschied zwischen dem Subjekt und dem Objekt wird aufgehoben und zurück bleibt eine nicht-duale Einheit zwischen Gott (Brahman, dem Selbst, dem Sein) und der Seele – was im Indischen „Advaita“, Nichtzweiheit genannt wird. Es gibt weder einen Erkennenden noch etwas Erkanntes mehr - der zunächst von mir getrennte, mir gegenüberstehende Gott verschwindet zusammen mit meiner persönlichen Identität, und übrig bleibt das alles Umfassende All-Eine, das mit „meinem“ Bewusstsein identisch ist.
(Dies kann auch einer der Gründe sein, weshalb, wie von vielen Mystikern betont wird, über das göttliche Prinzip und den Zustand der Vereinigung im Grunde nicht gesprochen werden kann: Wenn Gott als Objekt verschwindet, kann nichts mehr an und in ihm erkannt werden, und alle begrifflichen Umschreibungen versagen. Auch wenn das Göttliche in der Einheit erfahren wird, so kann es nur in der Dualität erinnert und beschrieben werden, deren Sprache jedoch die hierfür notwendigen Begriffe, die ja alle aus der Dualität stammen, gar nicht zur Verfügung stellt.)
Hierzu noch einmal ein markantes Zitat des indischen Advaita-Philosophen Shankara (s.o. Kapitel 9.4) über den Zustand nach der Erleuchtung:
„Das Ich ist vergangen. Ich habe meine Identität mit Brahman erfahren; so sind alle meine Wünsche ausgelöscht. Ich habe mich über meine Unwissenheit, meine Beschäftigung mit diesem Weltall der Erscheinungen erhoben. Was ist diese Freude in mir? Wer könnte sie ermessen? Ich kenne nichts mehr als grenzenlose, uferlose Freude!
Das Meer Brahmans ist voller Nektar, der Freude des Atman. Der Schatz, den ich dort gefunden habe, ist nicht mit Worten zu beschreiben. Gedanken können ihn nicht erfassen. Mein Bewusstsein fiel wie ein Hagelkorn in die Weite des Meeres, das Brahman ist. Als es einen Tropfen dieses Meeres berührte, löste es sich auf und wurde eins mit Brahman.“ (Shankara 1981, S. 123 f.)
* * * * *
Dagegen findet sich in der christlichen Mystik überwiegend (aber nicht ausschließlich) die Auffassung, dass sich in der unio mystica die individuelle Seele zwar mit Gott vereint, dass dabei jedoch immer noch ihr individuelles Bewusstsein bestehen bleibt (s. obiges Zitat von Enomiya-Lassalle): Die Seele erfährt Gott auch in der mystischen Vereinigung als ein Gegenüber, mit dem sie in einer dualen Ich-Du-Beziehung bleibt.
Typische Beispiele hierfür finden sich vor allem in der mittelalterlichen Brautmystik (s.o. Kapitel 4.4), in der oft geschildert wird, wie die Mystikerin Gott in der Person von Christus begegnet und sich mit ihm vereint.Hierzu ein schon oben in Kapitel (4.5) angeführtes Zitat von Mechthild von Magdeburg:
Gott bzw. die Gottheit spricht zu der Seele: „»Edle Seele, ihr seid meiner Natur so innig verbunden, dass gar nichts zwischen Euch und mir sein darf. Niemals war ein Engel so erhaben, dass ihm auch nur für einen Augenblick zuteil geworden wäre, was Euch auf ewig zu eigen ist.« […]
Darauf tritt da eine selige Stille ein, wie es beide wollen. Er schenkt sich ihr, und sie schenkt sich ihm. Was ihr jetzt geschieht, das weiß sie - und dies ist mein Trost. Nun kann dies nicht lange währen; wo zwei Liebende heimlich zusammenkommen, müssen sie immer wieder auseinandergehen, ohne sich doch zu trennen.“ (Mechthild von Magdeburg und Vollmann-Profe 2008, S. 47)
Gott und die Seele vereinigen sich, aber sie gehen auch wieder auseinander – die Seele wird also durch die Vereinigung nicht „eingeschmolzen“, nicht vernichtet – ihre Persönlichkeit, ihr individuelles Bewusstsein bleibt erhalten.
(Dass in der östlichen Mystik dagegen bei der Vereinigung mit dem Absoluten keine duale Ich-Du-Beziehung mehr erhalten bleibt, hängt natürlich auch eng damit zusammen, dass dort das Göttliche eher apersonal vorgestellt wird.)
Der oben in Kapitel 6 genauer behandelte Angelus Silesius beschreibt zwar mehrfach die Vereinigung mit Gott als Ziel, z.B. in den Versen;
Die geistliche Goldmachung.
Dann wird das Blei zu Gold, dann fällt der Zufall hin,
Wann ich mit Gott durch Gott in Gott verwandelt bin.
(I, 102)
Wie sieht man Gott?
Gott wohnt in einem Licht, zu dem die Bahn gebricht:
Wer es nicht selber wird, der sieht ihn ewig nicht.
(I, 72)
Das Erkennende muss das Erkannte werden.
In Gott wird nichts erkannt: er ist ein einig Ein,
Was man in ihm erkennt, das muss man selber sein.
(I, 285)
(Angelus Silesius und Gnädinger 1986 s.o. Kapitel 6.2 b)
Andererseits betont er, dass bei dieser Vereinigung die Individualität der menschlichen Seele erhalten bleibt. So schreibt in er der Vorrede zu seinem „Cherubinischen Wandersmann“:
„Und ist hiermit einmal für allemal zu wissen, dass des Urhebers [Angelus Silesius`] Meinung nirgends sei, dass die menschliche Seele ihre Geschaffenheit solle oder könne verlieren und durch die Vergottung in Gott oder sein ungeschaffenes Wesen verwandelt werden, welches in alle Ewigkeit nicht sein kann. Denn obwohl Gott allmächtig ist, so kann er doch dieses nicht machen (und wenn ers könnte, wäre er nicht Gott), dass eine Kreatur natürlich und wesentlich Gott sei. Derowegen sagt Taulerus in seinen Geistlichen Unterrichtungen c. [Kapitel] 9: »Weil der Allerhöchste nicht machen konnte, dass wir von Natur Gott wären (denn dies steht ihm alleine zu), so hat er gemacht, dass wir Gott wären aus Gnaden, damit wir zugleich mit ihm in immerwährender Liebe besitzen mögen eine Seligkeit, eine Freude und ein einiges Königreich.« Sondern dieses ist sein Sinn, dass die gewürdigte und heilige Seele zu solcher naher Vereinigung mit Gott und seinem göttlichen Wesen gelange, dass sie mit demselben ganz und gar durchdrungen, überformet, vereinigt und eines sei; dermaßen, dass wenn man sie sehen sollte, man an ihr nichts anderes sehen und erkennen würde als Gott, wie dann im ewigen Leben geschehen wird, weil sie von dem Glanze seiner Herrlichkeit gleichsam ganz verschlungen sein wird.“ [Hierin bezieht er sich auf die Schrift „Geistliche Unterrichtungen“, die Johannes Tauler (1300 – 1361), einem Schüler von Meister Eckhart zugeschrieben wird.] (Angelus Silesius und Gnädinger 1986, S. 10 f.)
Aber auch in der christlichen Mystik finden sich, wenn auch nur vereinzelt (dafür allerdings an prominenter Stelle), Beispiele, die der oben beschriebenen östlichen Auffassung gleichen.
So schreibt Meister Eckhart (s.o. Kapitel 3.2 b):
Die Seele „wird mit Gott eins und nicht [nur] vereint; denn, wo Gott ist, da ist [auch] die Seele, und, wo die Seele ist, da ist [auch] Gott.“ (Meister Eckhart und Quint 1976, Predigt 64, S. 519)
Noch deutlicher sagt er es an anderer Stelle:
„Soll ich aber Gott auf solche Weise unmittelbar erkennen, so muss ich schlechthin er, und er muss ich werden. Genauerhin sage ich: Gott muss schlechthin ich werden und ich schlechthin Gott, so völlig eins, dass dieses »Er« und dieses »Ich« Eins ist, werden und sind und in dieser Seinsheit ewig ein Werk wirken. Denn, solange dieses »Er« und dieses »Ich«, das heißt Gott und die Seele, nicht ein einziges Hier und ein einziges Nun sind, solange könnte dieses »Ich« mit dem »Er« nimmer wirken noch eins werden.“ (Meister Eckhart und Quint 1979. S. 354 f.)
Und die mittelalterliche Mystikerin Marguerite Porete schreibt entsprechend (s.o. Kapitel 4.7):
Auf der sechsten Stufe auf dem Weg zu Gott schließlich sieht die Seele, „dass da nichts ist außer Gott selbst, der ist, von dem alles ist. Und das, was ist, ist Gott selbst, und deshalb sieht sie nichts außer sich selbst. Denn wer das sieht, was ist, sieht nichts außer Gott selbst, der sich in dieser Seele selbst sieht. […]
[Sie sieht] weder Gott noch sich selbst, vielmehr sieht Gott sich von sich aus in ihr, für sie, ohne sie. Dieser (nämlich Gott) zeigt ihr, dass nichts ist als nur er.“ (Marguerite Porete und Kern 2011, S. 184)
An diesen Beispielen erkennt man, dass es auch christliche Mystikerinnen und Mystiker gibt, deren Ansicht vom Zustand in und nach der mystischen Vereinigung derjenigen der östlichen Mystik sehr nahekommt: Dass mein individuelles Bewusstsein sich in der unio mystica mit dem göttlichen Bewusstsein so vereint, dass das göttliche Bewusstsein zu meinem Bewusstsein und mein Bewusstsein zum göttlichen Bewusstsein wird.
Und vielleicht ist dies letztlich das Endziel jedweder Mystik.
_________________________________________________________